Begehren verlangt Stärke

“ICH WILL EIN EIS!”

Das Kind darf sich zwei Kugeln aussuchen: es will Schokolade und Himbeere, genießt und strahlt.

Zwei Tage später zieht es Papa wieder zur Eisdiele, sein Wunsch, nochmal die süße Leckerei zu genießen, ist groß. Papa hat heute aber gute Gründe, dass es kein Eis gibt. Tränen? Geschrei? Drama?

Auf jeden Fall eine elementare Lernerfahrung und die wichtige Auseinandersetzung mit einem universellen Gesetz:

WIR KRIEGEN NICHT ALLES, WAS WIR WOLLEN.

Oh no, heute gibt es kein Eis! Was jetzt?

  • Das Kind brüllt so lange seine Umsorgenden mürbe, bis dem Wunsch doch noch nachgegeben wird. Learning: Ich muss nur genug Druck aufbauen um zu bekommen, was ich will (auch wenn das für den anderen nicht passt)
  • Das Kind findet sich mit der aktuellen Gegebenheit ab und fragt bei nächster Gelegenheit wieder. Learning: Es ist legitim, Wünsche zu haben und wenn es für alle passt, werden diese erfüllt.
  • Das Kind ist frustriert und behält seine Wünsche zukünftig für sich. Learning: Ich wünsche mir lieber nichts, meine Wünsche sind unwichtig.

Ratschläge für eine gute und erfüllte Beziehung legen den Fokus oft auf die Kommunikation: Wir müssten nur miteinander reden, dann Verständnis füreinander entwickeln und dann würden unsere Wünsche erfüllt und die Probleme weggezaubert.

Doch: Ein Paar besteht nicht aus zwei Hälften, die sich zu einem Ganzen gefunden haben, sondern aus zwei Individuen mit ihren ganz eigenen Wünschen, Bedürfnissen, aktuellem Fokus, Zuständen.

“ICH WILL EIS……Äääh…..SEX!”

Wer also denkt, er*sie müsste nur lange genug mit dem*der Partner*in sprechen, Verständnis erzeugen und würde dann seine*ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen, wird möglicherweise enttäuscht werden.

Denn: Das Gegenüber will heute kein Himbeer-oder Schokoeis. Vielleicht will er*sie heute gar kein Eis. Vielleicht ist bei ihm*ihr heute eher Schnitzel oder Salat angezeigt. Und vielleicht ist Eis auch für die nächsten Wochen oder Monate keine Option.

Was hat aber der Wunsch nach einem Eis mit Begehren und was hat das mit innerer Stärke zu tun?

Im besten Fall haben wir gelernt, dass es gute Gründe gibt, warum unsere Wünsche immer mal wieder nicht erfüllt werden (können).

Was erstmal frustriert, kann auf Dauer zu innerer Stärke führen: Dass ich heute kein Eis bekomme, akzeptiere ich, gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass meine Wünsche zu einem anderen Zeitpunkt erfüllt werden.

Wenn ich in mir stabil bin, kann ich ohne Risiko begehren:

Ich zeige meinem Gegenüber, dass ich ihn*sie will und gestehe ihm*ihr gleichzeitig zu, dass er*sie mir nicht geben kann/will, was ich gerade will.

Mit einer Absage kann ich umgehen, denn davon hängt mein Selbstwert nicht ab.

Wichtig:

Es geht nicht darum, monate-oder jahrelang bestimmte Zustände schweigend zu erdulden! Achtsame Kommunikation über die eigenen Bedürfnisse ist der nächste Schritt.

NICHT BEGEHREN WOLLEN

Wenn Begehren ausbleibt, ist manchmal diese Strategie dafür verantwortlich:

Lieber will ich gar nicht wollen, weil ich mit dem Schmerz nicht umgehen kann, nicht zu bekommen, was ich will.

Begehren scheint unberechenbar und manche Menschen fühlen sich nur sicher, wenn sie ihr Gegenüber im gleichen Ausmaß begehren, wie das Gegenüber ihn*sie begehrt.

„Ich kann nackt durchs Haus laufen, er schaut mich nicht einmal mehr an!“ Frustriert schildert sie mir, wie sie das nicht-begehrt werden ihres Mannes erlebt. Ihre Annäherungsversuche werden von ihm ignoriert. Sie überlegt, sich auf Tinder anzumelden, um mal wieder „dieses Feuer, das gewollt werden, zu spüren“.
Gerade in langjährigen Partnerschaften kommt es häufig vor, dass einer oder beide Partner*innen kein Begehren mehr zeigen. Meist entsteht nach zunehmender Verärgerung eine tiefe Kluft.
Sexualität ist ein Spannungsfeld, das uns oft an unsere Grenzen bringt, vor allem, wenn wir es als ein Feld der fremdbestätigten Selbstwahrnehmung begreifen. Wenn wir persönlich nehmen, dass das Gegenüber scheinbar gerade kein Interesse an Intimität hat. Wenn wir es als Bewertung der eigenen Person auffassen: “Scheinbar bin ich nicht mehr attraktiv, jugendlich, aufregend genug? Dein ausbleibendes Begehren verunsichert mich, wirft mich aus der Bahn!“
Quick Fix? Affäre oder Beendigung der Partnerschaft. Für kurze Zeit scheint mit dem*der Neuen alles herrlich: Da sagt mir endlich wieder mal jemand, wie heiß, begehrenswert ich bin, mein Marktwert ist stabil! Bis sich erneut das fluktuierende Begehren einstellt und wir wieder ins Zweifeln kommen: Bin ich wirklich noch anziehend?
Wie wäre es, wenn wir einen Schritt weiter gehen in der Selbstentwicklung:
Statt das ausbleibende Begehren des anderen als eine Aussage über uns aufzufassen, in der inneren Stabilität, der eigenen Ruhe bleiben. Beim anderen (nach einem gewissen Zeitraum) behutsam nachfragen, was gerade anliegen könnte, welche Gründe es geben könnte für das Ausbleiben des Begehrens.
Statt zu flüchten: bleiben. Das eigene Begehren kommunizieren (dabei bei den eigenen Gefühlen bleiben, alles was eine Aufforderung enthält, kann Druck aufbauen, was sehr kontraproduktiv sein kann) – und damit in der Nähe bleiben. Genauso wie ich Nähe herstellen kann, wenn ich meine Traurigkeit, meine Zweifel, meine Wut und meine Ängste kommuniziere, darf ich auch mein Begehren kommunizieren.
Statt die Kluft größer werden zu lassen, zu zweit gucken, wie groß der Spielraum ist, und vielleicht der Kreativität freien Lauf lassen.